Editorial#
Liebe Leserin, lieber Leser,
Sie halten ein Dokument in der Hand, das wir immer noch als “Buch” bezeichnen wollen, auch wenn Sie es wahrscheinlich nicht in Papierform vor sich haben, sondern als pdf- oder html-Datei. Im vordigitalen Zeitalter war ein Buch in erster Linie eine in sich geschlossene Ansammlung von Informationen, Verweise nach außen beschränkten sich auf Zitate und ein Literaturverzeichnis. Moderne digitale Informationsprodukte zeichnen sich dagegen durch Entgrenzung aus: Durch so genannte Links können digitale Texte als strukturierter, zentraler Ausgangspunkt eines weit verzweigten Informationsnetzes gestaltet werden. Die Linked Data Community würde vielleicht sagen: Digitaler Inhalt ist vernetzter Inhalt.
Auch den vorliegenden Text haben wir als Kombination aus Buch und Online-Material konzipiert. Die gedruckte Version ist so vollständig, dass sie auch offline gelesen werden kann. Wer mehr wissen will, kann über die Links in der digitalen Version auf weiterführendes Material zugreifen – insbesondere auf solches, das auf Papier nur bedingt darstellbar ist, wie z.B. Python-Code in Form von ausführbaren Jupyter Notebooks oder Dateien zum Download.
An dieser Stelle ist eine erste Problematisierung angebracht. Bei genauerem Nachdenken ist nicht ganz klar, was mit den Begriffen “Link” oder “Zugang” oder “Material” gemeint ist: Worauf verweisen wir mit einem solchen “Link”? Folgende Möglichkeiten sind denkbar: (a) Die einzelne Nachricht, verstanden als physikalischer Strom von Nullen und Einsen, die wir als Antwort auf eine http-Anfrage von einem Internet-Server erhalten und die wir z.B. durch Größe und sha256-Prüfsumme beschreiben können? (b) Die Datei, die wir z.B. durch das Format und die zugehörige Anwendung beschreiben können? (c) Das in der Datei manifestierte symbolische Modell, das wir als Schrift, Diagramm, Bild, Musiknoten aufgezeichnet haben? (d) Die Idee, die Vorstellung, das Bild, das im Kopf einer Person entsteht, die ein symbolisches Modell liest? (e) Ein Ding (Ereignis, Individuum, Allgemeines etc.) in der analogen Welt, das menschliches Denken und Handeln als Manifestation einer bestimmten Idee erkennt?
Was Sie gerade kennen gelernt haben, ist eine grundlegende Unterscheidung, die im Bibliothekswesen als WEMI bekannt ist. Das Werk ist eine Vorstellung, eine Idee. Die Expression ist z.B. der schriftliche Ausdruck einer Idee. Die Manifestation kodiert einen schriftlichen Ausdruck, z.B. im pdf- oder html-Format. Das Exemplar (EN: Item) ist das Ergebnis des Herunterladens einer Folge von Bytes auf die Festplatte oder in den RAM-Speicher eines Ebook-Readers.
Wir glauben, dass WEMI sehr gut geeignet ist, um die Bedeutung von Links zu verdeutlichen. Tatsächlich kann diese Broschüre als eine Einführung in Linked Open Data vor dem theoretischen Hintergrund von WEMI gelesen werden.
Hier stoßen wir auf das Problem, dass WEMI nicht zum Allgemeinwissen gehört. So bekannt WEMI im Bibliothekswesen ist, so unbekannt ist es außerhalb. Das mag daran liegen, dass WEMI Differenzierungen einführt, die alles andere als trivial sind. Die mangelnde Bekanntheit mag aber auch daran liegen, dass die technologischen Grundlagen von Linked Open Data ebenfalls nicht trivial sind und erst zögerlich auch von der Bibliothekswissenschaft als Thema erkannt werden.
WEMI wurde primär für analoge Dokumente entwickelt, kann aber auch mit digitalen Dokumenten wie einem Buch als PDF-Datei umgehen. Konzeptionell schwieriger wird es mit WEMI, wenn es darum geht, digitale Ressourcen zu erfassen, die nicht mehr der Dokumentenmetapher entsprechen. Der in Europa relevante Bibliotheksstandard RDA kennt zwar sogenannte integrierende Ressourcen wie Webseiten oder Datenbanken, die sich nicht als klar abgegrenztes statisches Dokument beschreiben lassen – aber wie man mit RDF-basierten Datenbanken (?), Knowledge Graphs (?), Datensätzen (?) spezifisch umgeht, ist in WEMI begrifflich weitgehend unklar.
Tatsächlich kann dieses Booklet auch als Transfer verstanden werden, wie WEMI auf Linked Open Data sachlich angemessen angewendet werden kann. Wir hoffen, hier einen Beitrag zur informationswissenschaftlichen Theorieentwicklung leisten zu können.
Zielgruppe der Darstellung sind Experten und Expertinnen aus der Informationswissenschaft, die in einer Rolle als Datenverantwortliche ihre technologische Expertise vertiefen wollen, darunter insbesondere Menschen, die es mit der Integration und Verwaltung von Daten zu tun haben. Alle diese Personen sind an einem professionellen Metadatenmanagement interessiert, d.h. an Vernetzung, Integration, Qualität, Herkunft, Versionsgeschichte, Verschlagwortung, Terminologie, Bedeutung von Daten und Metadaten.
Dieser Text führt zuletzt ganz knapp in die neue Modellierungssprache GenDifS – kurz für Genus Proximum Differencia Specifica – ein, mit der Vokabulare zur Beschreibung von LOD schnell und übersichtlich entwickelt werden können. Mit GenDifS lassen sich Taxonomien grafisch modellieren und mit dem OpenSource Mindmap-Programm freemind/freeplane in verschiedene Sprachen des Semantic Web übersetzen. Tatsächlich kann dieses Büchlein als der theoretische Hintergrund von GenDifS verstanden werden.
Vernetzung mit Wikipedia. Theorien lassen sich nicht voraussetzungslos entwicklen, und natürlich auch nicht die vorliegende Einführung in dieses Thema. Wir werden einige anspruchsvolle Begriffe klären müssen und dabei auf andere, noch anspruchsvollere Begriffe stoßen. Wer hier nicht in einen unendlichen Regress geraten will, muss letztlich auf die kommunikative Kraft der natürlichen Sprache vertrauen.
Sprache funktioniert oft dort am besten, wo sie zwanglos verwendet und nicht als Problem thematisiert wird. Wenn wir in diesem Heft einen Begriff explizit thematisieren und in der Folge auch kritisch hinterfragen wollen, werden wir uns zunächst vergewissern, welcher Konsens darüber bereits besteht. Das ist dann auch der Kontext, in dem wir Wikipedia für zitierfähig halten: Wir interpretieren Wikipedia als eine systematisch vernetzte Dokumentation von Konsens, die uns auch als konzeptioneller Ausgangspunkt dienen kann.