Seminaristischer Unterricht im Hörsaal

Seminaristischer Unterricht im Hörsaal

Projekt: Großveranstaltung *seminaristisch*, d.h. ohne Vorlesung.

Großveranstaltung heißt im SS 2015:

  • 80 Hörer in einem Hörsaal
  • 4h Übung (Mittwoch)
  • eine doppelte Doppelstunde (4h a 45 Minuten) "Vorlesung" (Donnerstag)
  • exemplarische Durchführung: http://www.jbusse.de/ITMC_ss2015/

Kontext: Interesse an der Weiterentwicklung der Konzepte

Seminaristischer Unterricht

Die Veranstaltung wird, wie im Modulhandbuch ausgewiesen, in Form von seminaristischem Unterricht durchgeführt.

Q: "Was bedeutet seminaristischer Unterricht?"

  • A: "Es ist eine Art der Lehrveranstaltung zur Einführung in das selbstständige wissenschaftliche Arbeiten mit Übungen, Diskussionen und Vorträgen der Studierende im Unterschied zur Vorlesung." (www.gutefrage.net/frage/was-bedeutet-seminaristischer-unterricht).
  • A: "Lehrveranstaltungen mit Seminarcharakter zeichnen sich dadurch aus, dass der Lernstoff nicht passiv gehört, sondern durch aktive Diskussion erarbeitet wird. Von den Studierenden werden als Voraussetzung für den Scheinerwerb eigenständige Beiträge erwartet. In der Regel handelt es sich dabei um mündliche Referate und schriftliche Thesenpapiere oder Hausarbeiten." (lspwivs.sowi.uni-mannheim.de/Studium/Erwerb%20von%20Leistungsnachweisen/ > Hinweise zu seminaristischen Veranstaltungen2) Hinweise zu seminaristischen Veranstaltungen)
  • A: "2. Seminaristische Veranstaltungen dienen der selbständigen Verarbeitung des Stoffs eines bestimmten Problembereichs durch die Studierenden in Form von Diskussionen, Referaten und Hausarbeiten. [...] 2. Seminaristische Veranstaltungen haben in der Regel ausgewählte Themen und Probleme aus jenem Bereich zum Gegenstand, dem sie zugeordnet sind. Sie haben die Funktion, eine Vertiefung der Kenntnisse des betreffenden Gebiets zu ermöglichen." (www.soz.uni-heidelberg.de/Studienordnung_fuer_das_DiplomStudium/135,0,0,0,1.html)

Um die Studierenden in das seminaristische Arbeiten einzuführen, beginnt die Veranstaltung mit einem ca. 4-wöchigen Propädeutikum (in Form einer Vorlesung und Übung), in dem in die spezifischen Arbeitsweisen der Veranstaltung eingeführt wird.

Flipped Classroom

Idee des Flipped Classroom-Konzeptes: die methodische Großform von Vorlesung (oder, didaktisch allgemeiner: die eher passive Rezeption von Inhalten) und Hausaufgabe (oder didaktisch allgemeiner: die eher aktive Vertiefung und Übung) werden systematisch getauscht.

  • Die Inhaltsaneignung findet zuhause statt. In typischen Implementierungen dieses Ansatzes an Hochschulen ist es eine klassische Vorlesung, die per Videokamera aufgenommen und per Youtube von zuhause aus konsumierbar gemacht wird.
  • In Präsenz - und insbesondere auch im Plenum im Hörsaal - findet das Üben, Diskutieren, Vertiefen des Stoffes statt.

Jetzt sind wir aber an einer seminaristischen Veranstaltung interessiert, nicht an einer Vorlesung. Außerdem haben wir drei Elemente, zwischen denen man flippen kann: Hörsaal, Zuhause, sowie Übung. Was kann "flipped" hier bedeuten?

Unser Ansatz auch hier: Es ist der Hörsaal, in dem gemeinsam "Hausaufgaben" gemacht werden, geübt wird, Wissen vertieft wird. Zuhause jedoch soll bei einem seminaristischem Flipped Classroom-Konzept Wissen jedoch nicht durch Konsumption einer Vorlesung "gehört" werden, sondern wie in einem Seminar weitergehend angeeignet werden, insbesondere Texte gelesen und in schriftlichen Wissensdarstellung re-präsentiert werden.

In unserer seminaristischen Veranstaltung ist im Stundenplan auch eine Übung vorgesehen. Wie kann die für die Übung vorgesehene Zeit in einem Flipped-Classroom-Arrangement spezifisch mit neuem Sinn versehen werden, wenn doch Üben jetzt im Hörsaal stattfindet?

Unser Ansatz: Wir nutzen die Übungszeit zweckgemäß zur Vertiefung des Stoffes - jetzt allerdings in der Weise, dass wir Studierende darin unterstützen, selbst erarbeiteten Stoff nicht hauptsächlich zu präsentieren, sondern vor allem die Arbeit des Plenums im Hörsaal (also die aktive Aneignung und Vertiefung im Hörsaal) zu verantworten. Geübt wird hier also weder das Präsentieren noch das Aneignen von Stoff, sondern die Vermittlung von Stoff.

Allgemeiner Lösungsansatz

Hintergrund: Die Veranstaltung wendet sich an Wirtschaftsinformatiker im 6. Semester ihres Bachelor-Studiums, also an Akademiker kurz vor ihrem ersten berufsqualifizierenden Abschluss. Sie will hohe und komplexe Ziele setzen, die die ganze berufliche Persönlichkeit der Studierenden fordert.

In einem traditionellen Seminar "präsentieren" Studierende, d.h. sie tragen Soff vor. Weiterführende Idee hier: Eine Kleingruppe von Studierenden verantwortet eine Doppelstunde "Vorlesung".

  • Generalprobe in der letzten Übung vor einer Sitzung
  • Durchführung einer 90-minütigen Veranstaltung im Hörsaal mit 80 TN
  • Entwurf eines Übungsblatts incl. Bewertungsrichtlinie
  • Korrektur der Übungsblätter
    • offline durch die Studierenden
    • Bewertung und Freigabe der studentischen Korrektur durch den Dozenten in der jeweils ersten Übung nach einer Sitzung

Die Studierenden übernehmen in diesem Format Aufgaben, die sonst der Dozent macht, sie treten in die Rolle eines Lehrenden. Das ist gewollt, denn im Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) werden von Bachelor-Absolventen explizit such hier Kompetenzen eingefordert.

Leh-Kompetenzen zu entwickeln ist aber kein Selbstzweck, sondern ein Nebenergebnis des Ziels, in Bezug auf das Erlernen und Weitergeben von Wissen eine vollständige Handlung (handlungsorientierter Unterricht, Gudjons, de.wikipedia.org/wiki/Modell_der_vollst%C3%A4ndigen_Handlung ) Kontrolle und Beurteilung durchführen zu können.

Im Prinzip haben wir 3 sich ergänzende Veranstaltungen

  • "Propädeutikum": Einführung in wissenschaftliches Lernen und Lehren (Vl+Ü, ca 4 Wochen zu Semesterbeginn, Durchführung: J.Busse)
  • "Vorlesung": aktives Erleben mehrerer durch Peers durchgeführter LehrLerneinheiten

  • "Übung": handlungsorientiert geübt wird hier nicht nur die Recherche und Präsentation eines Themas (Minimalform des Begriffs "seminaristisch"), sondern die Planung und Durchführung einer Lerneinheit als vollständige Handlung Unterstützung der Studierenden weitgehend festgelegtes Format der durchzuführenden Sitzung klare Leitlinien für die zu erledigenden Aufgaben in der Übung Generalprobe

Weitere Herausforderungen, die von diesem Format auch adressiert werden:

  • Einf. in wissenschaftliches Arbeiten
  • starke Aktivierung der Studierenden (zumindest punktuell und exemplarisch)
  • Handhabung komplexer, in einer Gruppe zu lösende Aufgaben
  • Rollenübernahme
    • Präsentieren
    • Konstruktion von operationalisierbaren, S.M.A.R.T. (Specific Measurable Accepted Realistic Timely) Übungen
    • Beurteilung und Bewertung von Leistungen
  • Präsentieren und agieren im Hörsaal

90 Minuten "Vorlesung"

generelle Aufgabe in der Veranstaltung: Wir erschließen uns

  • eine einzelne konsistente, abgeschlossene Wissensexposition (i.A. ein wiss. Artikel, ein Lexikoneintrag, ein Kapitel aus einem Lehrbuch)
  • Gemeinsamkeiten und Widersprüche zwischen verschiedenen abgeschlossenen Wissensexpositionen
  • Bezüge zwischen verschiedenen, eng miteinander vernetzten Wissensexpositionen, z.B. Dokumentenstruktur und Inhalte der Website www.FitSM.eu

Grundsätzliche Idee: Direct Instruction (vgl. John Hattie). Kennzeichen:

  • Lehrziele und Erfolgskriterien sind operationalisiert und öffentlich
  • Exposition
    • Einführung in den Stoff
    • Modell: So siet eine gute Lösung aus
    • Kontrolle: Wurde der Stoff *prinzipiell* verstanden, kann eine Lösung hergestellt werden?
  • angeleitetes Üben
  • Abschluss
  • freies Üben mit Transferaufgaben

Ablauf in 90 Minuten Hörsaal: (hier: von den Studierenden durchgeführt, "seminaristisch")

  • Exposition (ca 20 Minuten)
    • Vorstellung der Quellen: Metadaten, Beziehung zu anderen Texten in der Veranstaltung etc.
    • textimmanenter Aufbau, Inhaltsverzeichis
    • Kernbegriffe erklären
    • Abstract zum Text (3-5 Minuten, 200-500 Worte)
  • angeleitetets Üben
    • z.B. Bearbeitung der Quellen durch Lernende, insbes. mit dem Ziel: Aufbau einer höheren Wissensrepräsentation
    • z.B. (gut vorbereitete) Gruppenarbeit, Gruppenpuzzle u.V.m.
    • Ergebnis: ein abgearbeitetes Übungsblatt
  • Abschluss

Anschließend zuhause:

  • alle Studierenden überarbeiten ihr Übungsblatt aus der Vorlesung
  • Übungsblatt-Korrektur

Aufbau einer höheren Wissensrepräsentation

Worum geht es? Ein Lerner hat einen Text vor sich liegen. Er bekommt die Aufgabe, die wesentlichen Inhalte in einer Wissensrepräsentation darzustellen ... bei J.Busse insbes. als tradtionelle Mindmap, als semantisches Netz von Mindmaps, ggf. auch als integrierte semantische Mindmap / Ontologie (Schwerpunkt hierbei: Terminologie, also unter-komplex; aber als erster Schritt ist das ja schon ganz schön). Ziel: Eine einzige Wissensrepräsentation auf einer Seite Din A3 (!) quer ... Herausforderung: Bewertung ... Punkte differenzieren nach Darstellung, Übersichtlichkeit, Vollständigkeit; lassen sich diese und jene Fragen aus der Wissensrepräsentation beantworten?

Ablauf:

  • Text mittels SQ3R bearbeiten
  • Mindmap zum Text erstellen
  • Begriffsarbeit als Glossar
    • Defs im Text erkennen
    • ggf. Verweise zu anderen Quellen, insbesondere Lehrbüchern finden und ggf. als Defs hinzufügen
    • ggf. teilweise Thesaurierung
  • inhaltliche Zusammenhänge als Prosatext; z.B.
    • Wirkungsketten
    • Argumentationen
    • u.V.m.

Hinweis: Wissensmodellierung in einer semantischen Mindmap ist ein wesentlicher Inhalt des Propädeutikums.