MaW-Corona-Konzept

Ein paar Kollegen tauschen uns derzeit aus um Ideen zu bekommen, wie wir unsere Präsenz-Veranstaltungen für das Digitale Sommersemester 2020 umgestalten können. Hier mein Bericht zur Master-Veranstaltung "Methodik angewandter Wissenschaften (MaW)".

Worum geht es in der Veranstaltung Master-Veranstaltung "Methodik angewandter Wissenschaften (MaW)"? Als Ziel der Veranstaltung erstellen die Teilnehmer (TN) ein Exposé in Form eines (hypothetischen) Stipendianantrags für ihre (hypothetische) Masterarbeit. In genau definierten Text-Typen

  • beschreiben die Studierenden das grobe Thema,
  • arbeiten das Thame zu einer bearbeitbaren Forschungsfragestellung klein,
  • stellen den Stand der Wissenschaft dar,
  • finden ein geeignetes Evaluationskonzept,
  • recherchieren Literatur etc.:

All dies sind wissenschaftlich-praktische Tätigkeiten auf den oberen Stufen gängiger Lernzieltaxonomien. Es geht also nicht um Lernen im Sinne von "sich erinnern" oder "erklären können", sondern um Anwendung, Umsetzung - und in erheblichem Umfang auch um Kreativität, Interesse, wissenschaftlichen Habitus.

Entsprechend führe ich MaW in Präsenz extrem dialogisch durch. In MaW geht es im Kern um wissenschaftliche Ideen-Entwicklung.

Randbedingungen

Die größte Herausforderung für die Studierenden besteht darin, eine bearbeitbare Forschungsfrage zu entwickeln.

  • Dies ist ein anspruchsvolles Lernziel, das bei den Studierenden gleichermaßen Interesse, Kreativität und einen wissenschaftlichen Habitus erfordert.

Der "Stoff" der Veranstaltung ist durch der wissenschaftichen Ratgeber-Literatur bestens dokumentiert.

  • Alles, was es zu sagen gibt, liegt vielfach als bestens didaktisiertes und qualitätsgesichertes Lehrbuch vor. Es gibt kaum Inhalte, die sich aus meiner spezifischen Forschung zu MaW ergeben und die zu "erlernen" sind, weil sie prüfungsrelevant sind.
  • Als Lehrbuc verwende ich Kornmeier 2016 (resp. spätere Auflagen), da die Sprache und die persönliche Ansprache der Studierenden am ehesten meinem eigenen Kommunikations-Stil entspricht.
  • Wo ich doch spezifische Inputs geben will, liegen diese weitestgehend als Texte online vor.

Beobchtung: Studierende können das Lehrbuch wohl lesen - aber die Anwendung auf die eigene Themenfindung fällt schwer. Wir haben in unserem Fach MaW kein Informations-, sondern ein Aneignungs- und Umsetzungs-Problem.

  • Wie kann man Studierende dazu bringen, das Lehrbuch selbstgesteuert zu lesen und umzusetzen?
  • Im Kontext von Corona besteht die Herausforderung darin, Studierende zum selbstgesteuerten Lernen zu bewegen.
  • Wesentliche Idee: Im Kontakt mit Studierenden agiert der Dozent nicht als Wissens-Ressource, sondern - unter Rückgriff auf geeignete Selbstlern-Medien - als Lern-Unterstützer.

Gerade MaW lebt vom wissenschaftlichen Austausch der Studierenden untereinander in Klein- und Kleinstgruppen sowie dem direkten Austausch mit dem Dozenten. Unter diesem Aspekt ist MaW eine Veranstaltung, die von den Rahmenbedingungen einer Präsenzhochschule geradezu lebt.

Herausforderung: Wie kann man eine Lehre, die dezidiert für einen Präsenz-Kontext entwickelt wurde, kurzfrstig auf einen maximal digitalen Kontext umbauen?

  • Das folgende Konzept geht von dem Fall aus, dass im SS 2020 Lehre maximal virtualisiert und Präsenz maximal reduziert werden soll.

Für die Veranstaltung MaW streben wir 100% "digitale" Lehre an:

  • Der Stoff liegt zu 100% als pdf vor
  • Sämtliche Kommunikation kann digital erfolgen: per Website, email, Moodle, Zoom-Meetings, gemeinsames Wiki.
  • Ergebnis von MaW ist ein Exposé, also ein individuell zu erstellender Text. Eine Klausur ist nicht vorgesehen, der Text ist laut Modulhandbuch als Studienarbeit einzureichen.

Idee: Wiki als zentrale Lernplattform.

Ausgangspunkt: Mein Fach "Methodik angewandter Wissenschaften" (MaW) fürhre ich in Präsenz extrem dialogisch durch:

  • Der Schwerpunkt des Lernens der Studierenden liegt auf der Erstellung eines Forschungs-Exposé für einen (hypothetischen) Stipendienantrag.
  • Der Schwerpunkt meines Lehrens im Semester besteht in der Unterstützung des Lernens der Studierenden, insbesondere durch die Herausarbeitung einer bearbeitbaren und hinreichend fokussierten Forschungsfrage im Gespräch mit jeweils 1-3 Studierenden.
  • Lehre in Form von Vorträgen ("Vorlesung") biete ich nicht an, abspielbare Lehr-Videos sind keine Option. Der "Stoff" der Veranstaltung liegt vollständig und bestens didaktisiert in Form eines Lehrbuchs vor.

Wie kann man diese dialogische Form im "digitalen Semster 2020" in ein Fernstudium ohne Präsenzmöglichkeit transformieren?

Herausforderung Lösungsansatz
Setze eine "digitale" Lernumgebung auf, die im Kern darauf abzielt, die Studierenden in ihrer Textproduktion zu unterstützen - und zwar kollaborativ. Baue ein Wiki auf, in dem die Studierenden Texte (a) erstellen und (b) wechselseitig diskutieren, kommentieren etc. können.
Die Studierenden müssen voneinander wissen: Wer ist mit im Kurs? Mit wem kommuniziere ich? Beste Lösung im herkömmlich Fernstudium: Kickoff in Präsenz, vorwiegend mit der Aufgabe des Kennenlernens, soziale Kontakte.
Lösungsansatz im Wiki: Jeder Teilnehmer eigene Homepage
Die Studierenden erzeugen Texte, dürfen zurecht Feedback einfordern. Texte im Wiki können von jedem - Dozent wie Teilnehmer - direkt annotiert werden. Darin liegt die Kernkompetenz der Wiki-Technologie.
Wiki-Kommentare erlauben nur eine recht eingeschränkte Kommunikation zu Texten, die ein gewisses Niveau erreicht haben - oder im Gegenteil auch nicht und bei denen offensichtlich Anfangs-Hilfe dringend erforderlich ist - wird ein ca 10-minütiges Telefonat oder Video-Meeting mit dem Dozenten vereinbart.
Es gibt ein gutes Dutzend Wikis (Vergleich: https://www.wikimatrix.org/). Welches Wiki-Markup nehmen wir? Aus pragmatischen Gründen habe ich mich für die Wiki-Engine DokuWiki entschieden. Hier gibt es ein Plugin, das die Verwendung von Markdown ermöglicht. Damit sind die Texte der Studierenden größtenteils kompatibel mit Markup in GitHub, Jupyter-Notebooks etc., der Markup-Dialekt also bekannt.
Ein Wiki einzurichten und am Leben zu halten erfordert spürbaren Aufwand. JB steckt den Aufwand, den Kollegen in die Erstellung von ppt und von Videos investieren, in die Konfiguration und soziale Betreuung des Wikis.
Ein Wiki "fliegt" nicht von selbst: Was soll man tun, was lassen - als Dozent und als Teilnehmer? siehe http://stewartmader.com/wikipatterns/

Lernformen f2f und virtuell

Diese Seite: Gegenüberstellung von Lernformen face2face (f2f) und "virtuell" (v), die in unserer Veranstaltung eingesetzt werden.

MaW face to face

MaW virtuell

Dozenten-Vortrag

Dozenten-Vortrag mit Folien (spielt praktisch keine Rolle)

Einweg-Video, z.B. Youtube-Channel (nicht implementiert)

Kurzvortrag

spontaner freier Vortrag ohne Folien (Dozent oder TN)

wird in schriftlicher Form vorgelegt; Textformen: Traktat email ggf. Wiki

Diskussion

Diskussion im Plenum

im Plenum per Video kaum möglich; wird ersetzt durch eine Anzahl Video-Meetings mit Kleingruppen

(Die Alternative Online-Forum "fliegt" meist nicht, verwende ich nicht).

synchrone Kleingruppenarbeit

3-5 TN erstellen zusammen eine Flipchart

Zeit: typischwerweise 20 min

Kommunikation: synchron, gemeisam am Tisch sitzend

3-5 TN erstellen zusammen eine Wiki-Seite

Zeit: im Idealfall auf 45 Min beschränken

Technik: Video-Meeting, moderiert durch Chair; gleichzeitiges synchrones Editieren von Text in einem Etherpad, Google-Doc etc.

Chair repliziert das Ergebnis anschließend als Protokoll ins Wiki

asynchrone Kleingruppenarbeit

unüblich für f2f

gemeinsames asynchrones Erstellen einer Wiki-Seite im Wiki selbst

Technik: Write-Lock durch die Wiki-Engine

Präsentation der Ergebnisse einer Kleingruppenarbeit

Flipcharts aller werden an die Wand gehängt

und von einem Kleingruppen-Mitglied dem Plenum erläutert

Wiki-Seiten werden ins Plenum gestellt

ggf. Bericht an den Dozenten per Video-Meeting

Anwesenheit (Def)

In Präsenz wird Anwesenheit physisch definiert. (Etwas unklar ist, ob Studierende in der letzten Reihe, die mit dem Smartphone nach draußen kommunizieren, im didaktischen Sinn anwesend sind, aber das ist ein anderes Problem).

In digitalen Settings bedeutet Anwenheit: (a) Studierende äußern sich digital so, dass es (b) für alle anderen sichtbar wird (-> Plenum)

Anwesenheit erforderlich?

In Präsenz herrscht in MaW keine Anwesenheitspflicht.

Entsprechend gibt es auch im Wiki keine Anwesenheitspflicht. Studierende können MaW auch absolvieren, ohne auch nur einmal eine Wiki-Seite editiert zu haben. Allerdings empfehle ich doch die "digitale" Anwesenheit: Digital nicht anwesende TN können von mir auch kein Feedback zu den Skizzen des Exposé bekommen.

Plenum

In Präsenz ist der Seminarraum unser Plenum. Wer sich hier laut äußert, wird von allen gehört.

Im Wiki haben wir ein Verzeichnis "Plenum": Texte, die Studierende hier einstellen, können von allen gelesen werden. Anwesenheit bedeutet vor allem, dass Studierende auch im Plenum sichtbar werden.

SGL

In Präsenz wird das Lernen weitgehend durch den Unterricht des Dozenten gesteuert. Präsenz zeichnet sich i.a. nicht durch selbst-, sondern durch dozentengesteuertes Lernen aus.

Unser digitales Lehr-Lern-Arrangement weist nur sehr wenige synchrone Aktivitäts-Slots auf. Wir wollen Studierenden die Möglichkeit geben nicht nur orts-, sondern auch zeitunabhängig zu Lernen. Dies erfordert eine höhere Möglichkeit, aber auch Notwendigkeit der Selbststeuerung.

Arbeitsgruppen

In Präsenz bilden Menschen eine Gruppe, die regelmäßig nahe beieinander sitzen und miteinander reden.

Im Wiki kann ich für Arbeitsgruppen Verzeichnisse einrichten, die nur von den Gruppenmitgliedern einsehbar sind. Bitte sprechen Sie mich an. (Sie können nur Mitglied in einer Gruppe sein.)

Video

spielt in MaW in Präsenz keine Rolle

In MaW sehr wichtig für die Kommunikation zwischen Dozent und Kleingruppen, jedoch nicht als Streaming-Video für das Plenum. (In MaW gibt es keine Video-Vorlesung, sondern ein Wiki.)

Begriffe

Präsenz
  • physikalisch (aber nicht unbedingt mit den Gedanken) in einem Raum
  • unersetzbar und wichtig: nonverbale Kommunikation, Campus-Erlebnis, Pausen, sozialer Kontakt
  • nicht unbedingt erforderlich um einen Vortrag zu hören oder zu lernen
f2f
  • face to face: zeitgleiche Kommunikation miteinander in Präsenz, ohne oder mit elektronischen Medien.
virtuell
  • eigentlich ein Unwort. Kürzel für alles, was nicht in Präsenz und ohne elektronische Medien stattfindet.
  • "virtuelle Präsenz": Ein Widerspruch in sich. Entweder man befindet sich in einem Raum oder nicht.
online
  • mit (schnellem) Internet
  • Gegenteil: offline, ohne Internet. Offline ist man z.B. im Zug zwischen LA und M im Funkloch. Solange es Funklöcher gibt benötigt man eine Replikation zwischen Online-verfügbaren Lernmdien auf den eigenen Rechner.
Distance Learning
  • kommt aus Ausstralien. Zielgruppe: Lernende im Outback.
  • heute Mittel der Wahl, wenn man Abstand halten muss (Corona)
  • früher: Versand von Fernstudenbriefen per Post, Rücksendung von Aufgaben per Post
  • heute: auch wenn Distance Learning heute elektronisch unterstützt wird, bleibt es doch ein Distance Learning und wird noch lange -> KEIN E-Learning
dozentengesteuertes synchrones Lernen
  • eng synchronisiert: gleiches Lerntempo für alle
  • locker synchronisiert: einer doziert, andere hören zu.
  • Dozent bestimmt das Lerntempo. Schnelle Mitdenker sind ggf. gelangweilt, langsame Mitdenker sind ggf. überfordert.
  • dozentengesteuertes synchrones Lernen wollen wir nur in Ausnahmefällen; Gegenteil: - > SGL
SGL
  • selbstgesteuertes Lernen
  • Lerner bestimmt selbst insbesondere:
    • Lerntempo
    • Lernort
    • Sozialform des Lernens
    • Medien
  • Alleine oder in kleinen Gruppen
teilnehmergesteuertes synchrones Lernen
  • Lernen gemeinsam in Kleingruppen
  • geht auch per Telefon, Skype etc.
  • eine soziale Methode des -> SGL
asynchrones Lernen
  • Jeder lernt wo, wann, so schnell er will; Voraussetzung für -> SGL
Kommunikation per email
  • eine asynchrone Kommunikationsform, "old school"
  • eher längere Kommunikations-Einheiten, zumindest im Vergleich zu Whatsapp oder Twitter
  • unterstützt - > asynchrones Lernen
KEIN E-Learning
  • kein E-Learning liegt vor, wenn die neuen Medien lediglich als Transportmittel für Lerninhalte benutzt werden:
    • Druckdateien (pdf) zum Download
    • Video-Übertragung von klassischen Vorlesungen
  • Problem: Jeder Hochschuldidkatiker weiß, dass Vorträge zu den schlechtesten Lernformen gehören.
    • Corona: Vorträge können nicht mehr besucht werden; "Lösung": Vorträge werden per Video übertragen.
  • "Wenn man eigentlich überkommene Lehrformen durch E-Learning repliziert, werden neue Medien reaktionär" (Busse, Klären, Krause 1997)
e-learning
  • konventionell: unklare Mischung aus virtuell, Distance Learning, KEIN E-Learning.
  • Definition J.Busse:
    • E-Leraning = Lernen durch Herstellen und Bearbeiten von Artefakten, die auch vom Computer interpetiert werden können
    • Wesentliche Eigenschaft: Nicht ein Dozent, sondern ein Computer kann unmittelbar Feedback geben
    • Die klassische Form kennen wir Informatiker bestens: Programmieren. (Problem: Das ist die hohe Schule, nicht für alle Fächer geeignet.)
    • Verallgemeinert: Lernen mit mehr oder weniger formalen Modellen - fachübergreifend, auch für SozWiss, Jura etc.
wileb
  • "Wir lesen ein Buch": Didaktisches Konzept als Gegenentwurf zu einer zunehmenden Kultur der passiven Konsumierung von Lern-Videos
  • Poster auf der HRK-Transfertagung "Abgucken erlaubt! Transfer von Studienreformprojekten zur Mathematik in der Ingenieurausbildung" am 8. April 2014 im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen in Hannover: Das Poster als pdf (DIN A4)
  • Dokumentation: http://jbusse.de/traktate/wileb.html