Übergänge vom Wort zum Begriff
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Übergänge vom Wort zum Begriff#
Ausgangspunkt: mathematische Häresie#
Ich bin sehr katholisch erzogen. Das hat meine Weltsicht nachhaltig geprägt. Es hat mich Jahre gekostet, aus der religiösen Nummer ‘rauszukommen. An die Stelle der Religion ist in der Folge die Wissenschaft getreten. Meine WissenschaftslehrerInnen waren allesamt auch MathematikerInnen. Ihre Erklärungen waren zuerst anschaulich, dann formal, zum Beispiel so:
“Geschwindigkeit ist der Weg, den man in einer bestimmten Zeit zurücklegt”
also
v = s / t
.
Auch das hat meine Weltsicht nachhaltig geprägt. Auch hier hat es mich Jahre gekostet, aus dem Glauben an die Mathematik ‘rauszukommen.
Was passiert, wenn man formalisiert?
“””Im engeren Sinn bedeutet Formalisierung die Beschreibung eines Phänomens oder die Formulierung einer Theorie in einer formalen Sprache, deren Axiomatisierung und – als letzte Stufe – die Kalkülisierung (siehe Formalisierte Theorie). [ … ] So ist die mathematische Logik durch Formalisierung gekennzeichnet. Man formalisiert ein System der Logik, indem man von der vorgegebenen Intension der in ihm vorkommenden Ausdrücke absieht und diese Ausdrücke in genau dem Sinn verwendet, den die Axiome bzw. die Regeln dieses Systems diesem vorschreiben.[2] „Die Aussagenlogik und die Prädikatenlogik lassen sich als Formalisierungen des alltäglichen logischen Schließens ansehen.“ “””[3]https://de.wikipedia.org/wiki/Formalisierung
Die Sprache der Mathematik bietet uns keine geeignete Meta- oder Hintergrundsprache für die Formalisierung von Begriffen. Gründe:
Die Mathematik selbst versteht sich als um so exakter, eleganter, mathematischer, schöner, reiner, je weniger sie auf Anschauung oder Welt zurückgreift, und um so abstrakter sie ist. Mathematik ist nicht angewandt, sondern weltabgewandt.
Mathematik wird axiomatisch entwickelt. Die ersten Axiome sind reine Setzungen, erheben keinen Anspruch auf eine Fundierung in der Welt. Maßgeblich ist hier das Bourbaki-Programm.
Ein großer Teil unserer mathematisch wissenschaftstheoretischen Diskurse verwendet Argumentationen, die sich nur in höherstufigen Prädikatenlogiken formalisieren lassen, und damit ohnehin unvollständig und unentscheidbar sind.
Die wissenschaftstheoretische Position des logischen Empirismus hat sich nicht bewährt. Mit formalen Systeme lässt sich Welt nicht so umfassend darstellen, wie das die Mitglieder des Wiener Kreises geglaubt (sic!) hatten. (Wenn die derzeitige KI in die Fußstapfen des logischen Empirismus tritt, muss sie scheitern. Wenn sie scheinbar Erfolg hat liegt das daran, dass wichtige Protagonisten dieses Scheitern nicht sehen wollen, oder ihr Denken so eingeschränkt haben, dass sie es nicht sehen können.) (ZITIEREN: Ralf Kese)
Das eigentliche Erkenntnisinteresse von Mathematikern besteht in den Zusammenhängen von abstrakten Strukturen untereinander. Die reale Welt ist da kaum von Interesse. Wenn wir dagegen Ontologien bauen, dann gibt es ein Primat der Wirklichkeit.
Wir wollen Modellbildung durch die Konstruktion von logikbasierten Begriffsystemen unterstützen. Die Konstruktion von Begriffen und ihren Beziehungen ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die grundlegend bei jeder strukturwissenschaftlichen Tätigkeit stattfindet.
Es stellt sich also die Frage: Wie kommen wir vom in Worte gefassten Gedanken zum durch Symbole referenzierten, formalisierten Begriffssystem?
Entwicklung eines Begriffs: vom Wort zum Begriff#
Wir stellen uns vor, dass ein philosophisch interessierter Autor in seinem privaten Forschungs-Journal folgenden Text schreibt:
Wir gehen Spazieren, ein Problem im Gepäck, und sind nun auf die Lösung gekommen … die wollen wir aufschreiben … dazu formulieren wir Text mündlich im Kopf … keine wohlformulierten Vortragssequenzen im Hörsaal, sondern informelle Selbstgespräche, Gedankensplitter … die wir auch aufschreiben, in der Form z.B. wie hier ein Punktpunktpunkt-Text … sozusagen aufgeschriebener mündlicher Text, kein grammatikalisch korrekter schriftlicher Text …
Dies ist offensichtlich ein natürlichsprachlicher, noch nicht formalisierter Text. Im Laufe der Textproduktion finden komplexe Prozesse statt:
(a) Sich vormals komplex sich im Kreise bewegende Gedanken werden serialisiert.
(b) In den Fluss meistens unreflektiert, in bestem Sinn naiv, unmittelbar verwendeter Sprache werden einzelne reflektiert verwendete Wörter (hier z.B. “aufgeschrieben mündlich”, “schriftlich”) eingebettet.
Wir können in obigem Textabschnitt beobachten, wie Fachsprache entsteht … natürliche Sprache, Reflexionen, komplexe Gedanken … von denen einige explizit mit genauer definierten Zeichen versehen, bezeichnet werden, und auch gleich von anderen komplexen Gedanken unterschieden werden … dem Autor ist es offensichtlich ein Bedürfnis, zwischen “aufgeschrieben mündlich” und “schriftlich” zu unterscheiden … eine Unterscheidung, die es in der deutschen Gemeinsprache so nicht gibt … im obigen Absatz findet also eine Begriffsbildung statt … Übergang vom Wort zum Begriff, von der Gemein- zur Fachsprache.
Nächster Schritt: Aufschreiben, explizit machen der Fachsprache, z.b. in einem Glossar die das folgende:
mündliche Sprache: Wenn Menschen sich zwanglos unterhalten; oftmals nur Gedankensplitter, keine “ganzen” Sätze, laut Duden “falsche” Grammatik - aber in Jahrtausenden entstanden, hoch funktional; “naiv” in positivem Sinn: unmittelbar, natürlich, unverbildet, echt, und daher auf eine eigentümliche Weise “wahr”.
schriftliche Sprache: wohlgeformte Grammatik; normalerweise “ganze Sätze”, bei Gedichten auch einzelne Phrasen, die in sich aber eben doch grammatikalisch korrekt sind
aufgeschriebene Sprache: entsteht z.B. beim Abtippen (transkribieren) einer Bandaufnahme von mündlicher Sprache; aber auch getippte mündliche Sprache, heute oft in den sozialen Medien, vor allem bei Kurznachrichten.
Was hier passiert ist: Es wurden drei Begriffe eingeführt, und durch Erläuterungen voneinander unterschieden … worin die Unterschiede bestehen ist noch nicht ganz klar, und auch die Erläuterungen sind etwas verquer, aber das mach nichts: Wir hören wohlwollend zu; akzeptieren, dass der Autor drei Dinge unterscheiden und benennen will. Wir treten mit dem Autor in einen tatsächlichen oder fiktiven Dialog mit dem Ziel, ihn besser zu verstehen.
Den Autor wollen wir auf wohlwollende Weise verstehen: Wir versuchen, den Kern der Unterscheidung nachzuvollzieen, durch zusätzlich Beispiele anschaulich zu machen, vielleicht zusätzliche Charakteristika zu finden, anhand derer sich die Begriffe noch besser unterscheiden lassen. Dabei werden wir auch Beispiele finden, die sich nicht eindeutig einem der Begriffe zuordnen lassen: Die werden noch sehr wertvoll sein, wir bewaren sie auf, schreiben sie auf eine Flipchart mit der Überschrift “Grenzfälle”; was wir aber nicht tun: Wir verwenden sie nicht bösartig als Waffe um zu zeigen, wie fragil oder gar unsinnig die noch in den Kinderschuhen befindlichen Unterscheidungen sind.
Als Ziel wollen wir selbst gut verstehen, was mit den neuen Begriffen gemeint ist. Man nennt das auch einen Begriff entwickeln (hier: einen Begriff von “mündlich”, “aufgeschrieben” und “schriftlich”).
Man wird sich dabei auch überlegen, welche unserer Begriffe sich teilweise ausschließen, oder sich auch vereinbaren lassen: Wenn der Autor betont, dass sich mündliche Sprache auch “aufgeschrieben” (z.B. über die Tastatur des Smartphones) tansportieren lässt, dann sollten wir auch einen Begriff für den Normalfall haben, z.B. “akustisch”. Und wenn in der Erläuterung von schriftlicher Sprache auf “ganze Sätze” oder “wohlgeformte Grammatik” so großer Wert gelegt wird, sollten wir vielleicht “grammatisch” versus “ungrammatisch” als charakteristisches Unterscheidungsmerkmal zwischen mündlich - egal ob akustisch oder aufgeschrieben - und schriftlich in Betracht ziehen?
Wenn man jetzt in Versuchung gerät, in einem Fach-Lexikon nach den “richtigen” Begriffen nachzuschlagen, käme das das einer unmittelbaren wissenschaftlichen Kapitulation gleich - denn wir sind ja im Moment damit befasst, eine Terminologie aus unserer eigenen Sicht heraus zu entwickeln, entweder, weil es diese noch nicht gibt, oder weil wir selbst Experten sind, die ein solches Fachwörterbuch selbst erstellen und dazu eine konsistentes, als Ontologie formalisiertes Begrifssystem erzeugen wollen; denn selbstverständlich gibt es zu “mündlich” und “schriftlich” einen eingeführten Sprachgebrauch, die der Autor des obigen Absatzes natürlich kennt, mit Bezug auf die Neuen Medien und neuere Formen des Terminologiemanagements aber stellenweise als inadäquat empfindet, und zu dem er einen alternativen Entwurf vorlegen will.
Geehrte Leserin, geehrter Leser, fällt Ihnen am vorangehenden Absatz etwas auf? Genau: Der Absatz besteht aus einem einzigen Satz. Lässt sich auch diese schriftliche Sprache akustisch transportieren? Gemäß unserer bisher entwickelten Terminologie ist das kein Widerspruch. So lässt sich der Satz z.B. in einem Vortrag vorlesen, auch wenn dieser akustische Transport bei den Empfängern für noch mehr Ratlosigkeit sorgen dürfte als die aufgeschriebene Form. Wir nehmen also grammatikalische Komplexität als ein - hier kontinuierliches - Unterscheidungsmerkmal zwischen “mündlich” und “schriftlich” hinzu.
vom Wort zum Begriff: Übergänge#
Ü1: Übergang von der synchronen Kommunikation, die an einen Zeitverlauf gebunden ist, zur asynchronen, nicht mehr an den Zeitverlauf gebundenen Kommunikation; charakteristische Merkmale:
synchron:
gleiches Tempo für Sender und Empfänger
“online”, “stream”, “rein sequentiell”
gleichzeitige full-duplex Kommunikation
asynchron:
“index-sequentiell”, man kann alle Stellen praktisch gleichzeitig überblicken
Interessant: mediale Repräsentiertheit ist bei asynchroner Kommunikation sachlich nicht hinwegzudenken, ber denoch kein Definitionsmerkmal: Auch synchrone Kommunikation kann repräsentiert werden: Aufnahme eines Gesprächs auf Tonband, einer Vorlesung auf Video. Aber auch ein aufgenommenes Video bleibt wesenhaft ein Stream.
Ü2: Übergang von der Mund-Ohr-Kommunikation hin zur zeichnhaften Hand-Auge-Kommunikation: Geschriebener Text, Visualisierung, Abbildung, Graph etc.; charakteristische Merkmale:
die Einführung des Zeichenhaften mit gleichzeitiger Zusammensetzung von Zeichen zu einem Satz, einer Abbildung, Informationsgraphik, einem UML-Diagramm etc.
fast immer medial repräsentiert (Ausnahme: Gebärdensprache)
weil medial repräsentiert auch asynchron; Grenzfall: fast synchrone Kommunikation über Whatsapp
interessant: Es geht hier nicht um die Einführung einzelner Zeichen, sondern um die “Darstellung” von mündlichem Text in geschriebenen Sätzen oder zeichenhaft zusammengesetzten Diagrammen.
Ü3: Übergang vom Wort (Term, Bezeichnung, Label) zum Begriff. Beispiel: Unsere Tanke an der Ecke hat sieben Tage die Woche geöffnet, Tag und Nacht. Das Wort “Tag” hat an der ersten Stelle die Bedeutung “24h Zeitabschnitt”, an der zweiten Stelle die Bedeutung “Zeit zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang”. Chrakteristischer Unterschied:
sehr viel weniger Polysemie
Gemein- vs. Fachsprache
Ü4: Übergang von der natürlichsprachlichen Ebene (egal ob mündlich oder schriftlich oder als Diagramm gebärdend) in die formalsprachliche Ebene (die sich in den Strukturwissenschaften faktisch nur schriftlich entwickelt hat); charakteristischer Unterschied:
formalisierte Zeichen - was immer das heißt
kontextfreie Grammatik (Typ-2-Grammatik in der Chomsky-Hierarchie)
ausschließlich (Fach-) Begriffe werden formalisiert
Wenn wir eine Ontologie bauen, beginnen wir meist mit Wissensrepräsentationen, die meist schon zeichenhaft medial repräsentiert sind, und meistens vorwiegend natürlichsprachlich kommuniziert werden, und versuchen Glasperlenspiele (siehe Ontologien in der Strukturalistischen Theorienkonzeption W. Stegmüllers) zu bauen. Das Problem ist, dass dabei viele anspruchsvolle Übergänge gleichzeitig stattfinden müssen. Das funktioniert nur selten!
Wir suchen also idealerweise nach Methoden, diese verschiedenen Übergänge
auch einzeln zu unterstützen
auch gleichzeitig und nebeneinander stattfinden zu lassen
nachvollziehbar und transparent zu machen